Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit

Joachim Hirsch

Jürgen Habermas diagnostiziert in seinem jüngst erschienen Buch – anknüpfend an seine bekannte Habilitationsschrift zum Strukturwandel der Öffentlichkeit – eine neue Entwicklung, der er eine umwälzende Bedeutung ähnlich der Erfindung des Buchdrucks zuschreibt. Der Band enthält neben diesem Text ein Interview und Überlegungen zum Begriff der deliberativen Demokratie, der einen zentralen theoretischen Hintergrund seiner Ausführungen bildet.

In seiner früheren Schrift hatte er den Zerfall der bürgerlichen Öffentlichkeit angesichts des Aufkommens der neuen Massenmedien und der damit verbundenen ökonomischen Konzentrationsprozesse untersucht und dies als „Refeudalisierung“ der Öffentlichkeit beschrieben, gekennzeichnet durch ein Verschwimmen der Grenzlinien zwischen Öffentlich und Privat und einen einseitigen Kommunikationsverlauf, der die Bürgerinnen und Bürger zu von mächtigen Apparaten abhängigen Konsumenten macht. Dies erachtete er schon damals als wesentliches Krisenmoment der liberalen Demokratie, weil eine funktionierende, im Prinzip alle und gleichermaßen einschließende „Deliberation“, d.h. Beratung, Austausch sachlicher Argumente, Überzeugung und schließliche Beschlussfassung deren Bestandsvoraussetzung sei. Man darf bezweifeln – und das wurde Habermas kritisch vorgehalten – ob die Voraussetzungen dafür in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft jemals vorhanden waren. Für ihn gilt aber „deliberative Demokratie ungeachtet dessen als normativer Maßstab.

Deliberative Momente seien, so Habermas, auch im massenmedialen Zeitalter noch bedeutsam, sofern eine „aufklärende Qualität“ der Medien gesichert sei. Dies bedeutet gegenüber seiner ursprünglichen Analyse eine gewisse Revision. Unter den heutigen, durch die Digitalisierung des Kommunikationssektors gekennzeichneten Bedingungen seien diese aber nicht mehr gegeben. Dazu komme, dass eine unter kapitalistischen Verhältnissen weitere Vorbedingung, nämlich eine relative soziale Gleichheit, immer weniger gewährleistet sei, was zu einer wachsenden Destabilisierung der Demokratie führe.

Habermas konzediert, dass empirische Daten über die Auswirkungen der Digitalisierung nur sehr beschränkt vorliegen, wodurch zunächst einmal mit Hypothesen und Plausibilitäten gearbeitet werden muss. Er bezieht sich dabei auf bereits vorliegende Untersuchungen und die einschlägige Literatur. Das Neue an den sogenannten sozialen Medien sei ihr Plattformcharakter, d.h. sie ermöglichten allen Nutzer*innen, Informationen jedweder Art – auch falsche – hochzuladen und global zugänglich zu machen. Für diese Inhalte seien die Plattformen nicht verantwortlich, d.h. es fehle eine professionelle und redaktionell gefilterte Überprüfung. Damit werde der Charakter der öffentlichen Kommunikation tiefgreifend verändert. Das potenziell emanzipatorische Versprechen der Öffentlichkeit „wird heute zumindest partiell von den wüsten Geräuschen in fragmentierten und in sich selbst kreisenden Echoräumen übertönt“ (45). Dies wirke der Integrationskraft der traditionellen Medien entgegen. Öffentlichkeit zerfalle in gegeneinander abgeschottete Blasen und Privates und Politisches vermischten sich bis zur Unkenntlichkeit. Diese Entwicklung habe dazu geführt, dass der Anteil insbesondere der Zeitungen an der Mediennutzung drastisch zurückgegangen sei, was zu Auflageverlusten und darauffolgende Sparmaßnahmen geführt habe – was wiederum zu Lasten der journalistischen Qualität gehe. In der Konkurrenz mit den sozialen Medien, deren kapitalistischer, d.h. auf Datenerhebung und -verwertung gegründeter Charakter einen neuen Schub der Kommerzialisierung lebensweltlicher Zusammenhänge bezeichne, stehe die traditionelle Presse, aber auch Radio und Fernsehen unter einem erheblichen Anpassungsdruck, wodurch „Aufmerksamkeitsmanagement“ zu einem vorrangigen journalistischen Prinzip werde (56). D.h. es gehe vorrangig um Sensationen und Emotionen. Recherche und die Ausleuchtung von Hintergründen, gar Herrschaftskritik treten in den Hintergrund.

Was das bedeutet, lässt sich an den auch von den Medien inszenierten Aufregern in der Corona-Epidemie ebenso ablesen wie an der Berichterstattung über den russischen Angriff auf die Ukraine, wo von den dahinterstehenden geopolitischen Machtauseinandersetzungen und Interessendivergenzen zwischen den USA und Europa, Russland und China bestenfalls am Rande Notiz genommen wird. Da ist es kein Wunder, dass ein hoher Prozentsatz der Nutzer*innen behaupten, mit falschen oder verzerrten Nachrichten konfrontiert zu sein, was Habermas angesichts seiner eigenen Analyse eigentlich nicht verwundern sollte (51). Insgesamt verschwindet der inklusive, d.h. alle Bürgerinnen und Bürger einschließende Charakter der Öffentlichkeit. Sie erhält einen zu Gefallens- und Missfallensäußerungen herabgesunkenen, plebiszitären Charakter.

Was die Wirkungen der digitalisierten Kommunikationsstruktur angeht, stützt sich Habermas auf bekanntes Material, was allerdings noch einer genaueren empirischen Überprüfung harrt. Er baut es in sein theoretisches Konzept ein, wodurch er die politische Dramatik der neuesten Entwicklungen im Bereich der politischen Öffentlichkeit besonders deutlich macht. Was die Konzentration wesentlicher Teile der Öffentlichkeit in der Hand weniger digitaler Großkonzerne mit ihren kaum durchschaubaren, die Inhalte steuernden Algorithmen so bedrohlich macht, lässt sich aktuell an der Übernahme von Twitter durch Elon Musk erkennen. Immerhin hat dieses Netzwerk einst erheblich zum Aufstieg von Donald Trump beigetragen.

Bleibt die Frage nach der Angemessenheit von Habermas` theoretischem, auf die „deliberative Demokratie“ bezogenen Ansatz. Genau genommen setzt diese die Realisierung von wirklicher Volkssouveränität, voraus – eines Verfassungsgrundsatzes, der unter den Bedingungen der kapitalistischen Gesellschaft nicht realisierbar ist. Habermas` Kritik sollte davor nicht Halt machen.

Jürgen Habermas: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik. Berlin: Suhrkamp 2022.